Die Ideen können weder besetzt noch getötet werden – die Ideen sterben nicht.
Wenn die türkische Armee nun für fünf Tage ihren Angriffskrieg aus Syrien aussetzt, so
bedeutet das für die Bevölkerung von Nord-Syrien gerade einmal eine kleine
Verschnaufpause. Was danach passieren wird, ist noch vollkommen unklar, denn die
Türkei besteht nach wie vor auf eine 30 Kilometer breiten Sicherheitszone unter ihrer
Kontrolle, die weit ins Syrische Inland hineinreichen würde.
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan käme damit seinem Ziel, die
Grenzziehungen aus dem Jahr 1923, die im Vertrag von Lausanne festgeschrieben
wurden, zu „korrigieren“. Dabei handelt es sich um ein spätes Erbe des europäischen
Kolonialismus, da diese Grenzen von den ehemaligen Kolonialherren der Region
Frankreich und England ausgehandelt wurden und der Türkei als Nachfolger des
zerfallenen osmanischen Reichs aufgezwungen wurden. Teile der türkischen Regierung
haben diese Grenzziehung immer als persönliche Schmach empfunden und arbeiten
daran, bis zum 100. Jahrestag des Vertrags, wenn nicht die Grenzen, so doch den
Einflussbereich der Türkei nach Süden zu verschieben. Erdoğan selbst hat schon davon
gesprochen, dass von Aleppo in Syrien bis Mossul im Irak alles zur Türkei gehören würde
und regierungstreue türkische Medien veröffentlichen hin und wieder Karten, auf denen
man eine Art Groß-Türkei erkennen kann, die sich an den Grenzen des alten osmanischen
Reichs orientieren – die Erdölfelder von Kirkuk mit eingeschlossen. Denn darum geht es ja
eigentlich. Die Einnahmen aus dem Ölgeschäft müssen her, denn die türkische Wirtschaft
ist auf Sand gebaut. Der Bauboom der letzten Jahre, der ein maßgeblicher Faktor des
türkischen Wirtschaftswunders war, ist mit viel Kredit erkauft worden und verlangt nun
seine Rendite. Also irgendwoher muss nun das harte Geld kommen und wenn
Volkswagen seine Ankündigung wahr macht und das Werk in der Türkei nun doch nicht
baut, sieht es finster aus für die türkische Wirtschaft.
Der verlangte Sicherheitskorridor ist in diesem Zusammenhang also nonsens. Darum geht
es nicht. Die Türkei war und ist von der demokratischen Selbstverwaltung Nord-Ost-
Syriens nie bedroht worden, zumindest nicht mit Waffengewalt. Der Vorwand, die Türkei
würde gegen dschihadistische Gruppierungen wie den IS vorgehen, ist dadurch widerlegt,
dass die türkischen Invasoren mit genau diesen Gruppierungen zusammen arbeiten und
diese die schmutzige Bodenarbeit in diesem Angriffskrieg verrichten lassen. Jahrelang
lebte die Türkei mit dschihadistischen Milizen, die den Norden Syriens kontrollierten, ohne
Bedenken Seite an Seite und ohne den Drang zu verspüren ins Nachbarland einzufallen,
um dort aufzuräumen. Diesen Drang verspürt sie erst, nachdem die Anarcho-
Kommunisten von der YPG und der YPJ ihren Einflussbereich vergrößert haben und wenn
İbrahim Kalın, der Sprecher des türkischen Präsidenten in einem Interview mit der ARD
behauptet, die türkei müsse sich um die 11.000 gefangenen IS Kämpfer kümmern, so ist
das ebenfalls gelogen. Die wurden nämlich von den Syrian Democratic Forces gefangen
genommen, die nun seit Monaten das Problem haben, diese Menschen bewachen und
versorgen zu müssen, was in der aktuellen Lage, aufgrund der Angriffe der Türkei
übrigens doppelt schwierig ist.
Die Türkei fühlt sich bedroht und sie hat Recht damit. Sie hat Recht damit, wenn sie sich
von der demokratischen Konföderation Nord und Ost Syrien bedroht fühlt, denn was dort
entstanden ist, hat mehr Kraft als alle Waffen dieser Welt. Grenzen sind Menschenwerk
und können von Menschen gebaut und wieder eingerissen werden. Sie sind künstlich und
der Versuch, so etwas Fiktionales wie den Staat und die Nation in den Sand dieser Erde
zu zeichnen.
Aus diesem Grund ist der Selbstverwaltung von Nord und Ost-Syrien auch gar nicht so
wichtig, ob das Land, in dem sie sich selbst verwalten nun Syrien, Türkei oder Irak heißt.
Wo die Grenzen genau verlaufen ist unerheblich, denn um was es dieser Art von
Selbstverwaltung eigentlich geht, ist die Idee einer gelebten Gesellschaft. Die Idee, dass
es immer weniger Staat gibt, je mehr Gesellschaft da ist und dass es nur dann immer
mehr Staat und Zwang geben muss, je weniger Gesellschaft existiert. Es ist die Idee einer
gelebten Politik, in der sich die Kommunen selbst verwalten und man gemeinsam die
Probleme des Alltags angeht. Es ist die Idee, der absoluten Gleichberechtigung zwischen
Frauen und Männern, weswegen auch jedes öffentliche Amt mit einer paritätischen
Doppelspitze besetzt wird. Es ist die Idee, dass die dreitausendjährige Vorherrschaft des
Patriarchats beendet werden muss, die dazu beigetragen hat, dass die Welt so ist, wie sie
ist, und sich die Frauen deshalb noch einmal gesondert organisieren müssen – in
Frauenräten und Frauenstrukturen, ausgestattet mit besonderen Rechten und
Befugnissen. Es ist die Idee, dass die Nachwirkungen des europäischen Kolonialismus,
mit all den künstlichen Grenzen im nahen Osten, in Afrika, in Lateinamerika aber auch in
Europa selbst, nur dadurch überwunden werden können, wenn sich die verschiedenen
ethnischen und kulturellen und religiösen Gruppen ohne unterdrückt zu werden
ausdrücken und repräsentieren können und so frei leben können, wie es ihnen gefällt.
Denn eines ist in der Berichterstattung der hiesigen Medien eben auch falsch. Es geht
nicht darum, dass die Türkei gerade „die Kurden“ angreift – es geht darum, dass die
Türkei eine Lebenswelt angreift, in der viele Lebenswelten möglich sind, unter anderem
die von Kurden, Arabern, Assyrern, Aramäern, Turkmenen und Tschetschenen, die in
dieser Weltgegend ansässig sind und die von den postkolonialen Grenzziehungen so
brutal zerschnitten wurden.
Die Türkei fühlt sich bedroht von diesen Ideen und sie fühlt sich zurecht bedroht, denn
diese Ideen strahlen aus. Die Idee einer Gesellschaft, die mit sich und der Umwelt im
Gleichgewicht lebt, denn zu allem Überfluss ist die demokratische Konföderation Nord-
Ost-Syrien auch noch ein ökologisches Projekt, das neben einer Fridays for Future
Gruppe in Qamishlo auch noch diverse ökologische Projekte zur Wiederaufforstung der
Region und nachhaltigen Landwirtschaft unterhält.
So viel fortschrittliche Ideen sind zu viel für einen Staat, der krampfhaft die Idee von Nation
und Vaterland aufrecht erhalten muss und der mitspielen will in der Welt der großen
kapitalistischen Player. So viel Fortschritt ist aber auch den anderen Staaten viel zu viel,
wie zum Beispiel der Bundesrepublik Deutschland, die einfach nur gerne Waffen in die
Türkei verkauft und die mit einem autonomen, kommunalistischen, ökologischen und
gendergerechtem System auch so ihre Schwierigkeiten hätte. Zu viel für einen Staat für
Spanien, der sich mit Händen und Füßen und allerlei Repression gegen die
Unabhängigkeit einer seiner Regionen wehrt, zu viel für Frankreich, in dem seit Jahren
schon eine Terrorabwehrgesetzgebung herrscht und wo politische Aktivist*innen aufgrund
von obskuren Paragraphen zu hohen Gefängnisstrafen verurteilt werden. Zu viel natürlich
auch für die USA und ihren Kommunisten-fressenden Präsidenten, der sich im Telefonat
mit Erdoğan wahrscheinlich schnell davon überzeugen ließ, dass die roten Teufel da in
Syrien weg müssen und der nun, funfact der Geschichte, aufgrund dieser eklatanten
außenpolitischen Fehlleistung vielleicht genau über diese roten Teufel stolpert.
Die Welt, wie sie ist, hat ihren moralischen Kompass verloren und aus diesem Grund
stolpern die Regierungen dieser Welt ohne Orientierung von einer halbgaren
Entscheidung zur nächsten. Sie haben keine Vision mehr, keine Ankerpunkte und keine
Konzepte. Der Druck aus Geld immer mehr Geld machen zu müssen, ist kein verlässlicher
Steuermann. Die Abhängigkeit von einem System, das Reichtum immer nur als
Geldreichtum begreifen kann, führt zu den halbherzigen und lahmen Lösungen, die wir
tagtäglich beobachten können.
Die Probleme dieser Welt sind allerdings zu groß und zu radikal, um sie nur halb zu lösen
– sie brauchen große und radikale Lösungen. Die freie und demokratische Konföderation
bietet, bei allen praktischen Mängeln, die sie mit Sicherheit hat, eine solche radikale
Lösung an.
Sie ist die Idee und die Umsetzung einer besseren und menschlicheren Welt und egal,
was immer auch passiert, wie lückenhaft sie umgesetzt und wie sehr sie attackiert wird –
diese Idee stirbt nicht.
„Sie können alle Blumen abschneiden, aber nie werden sie den Frühling aufhalten
können“ heißt es in einem Sprichwort. Der afrikanische Visionär und Revolutionär Thomas
Sankara hat es kurz vor seiner Ermordung etwas einfacher ausgedrückt: Die Ideen
sterben nicht!
Deshalb kommt heute alle zu den Fridays for Peace Demonstrationen und verteidigt diese
Idee. Beteiligt Euch morgen an den großen weltweiten Demonstrationen gegen die
Besatzung von Nord-Ost-Syrien. Mehr Infos unter dem Hashtag #riseup4rojava
Text und Fotos: Marcus Staiger